Tove Jansson liebte die Moomins und ließ all ihr Herzblut in die Geschichten und Charaktere einfließen. Kein Wunder, dass sich da nicht nur Themen, sondern auch ganz deutlich Elemente aus ihrem Leben in den Geschichten wieder finden. Wer sich mit ihrer Biografie und dem Zeitgeschehen auseinander setzt, kann so Einiges entdecken.
Auch wir waren auf Spurensuche und haben ein paar Themen gefunden:



Charaktere und ihre Vorbilder
Besonders deutlich finden sich parallelen zwischen Charakteren und Tove Janssons Bekannten.
Viele der Figuren aus dem Moomintal besitzen Charakter-Züge ihrer liebsten Menschen. Hier nur ein paar Beispiele:
- Tove Jansson verewigte ihre Mutter Signe Hammarsten-Jansson in der Moomin Mama. Wie Ihre eigene Mutter ist Moomin Mama künstlerisch und liebt die Natur, verhält sich oft unkonventionell, ist geduldigm tolerant und gastfreundlich zu allen und jedem.
- Too-Ticky hat Züge von Tove Janssons Partnerin Tuulikki Pietilä, sie ist ruhig und verständnisvoll, hilft immer und weiß, wer in welcher Situation wie am besten helfen kann. Too-Ticky fungiert wie eine Vermittlerin zwischen dem Moomintal und allem Neuen, Äußeren.
- In Snufkin vereinen sich Eigenschaften von gleich 2 wichtigen Männern in Tove Janssons Leben: Ihrem Bruder Lars und ihrem Freund und zeitweise Geliebten Atos Wirtanen. Beide waren ruhige Persönlichkeiten, die Freiheits-liebend waren und wenig mit Autoritäten anfangen konnten. Wann sie wollten, gingen sie fort - dahin, wo es sie gerade hinzog.
- Tofsla und Vifsla sind nicht nur winzig kleine Trolle im Moomintal, die eine Geheimsprache sprechen, sondern auch die Spitznamen, die Tove Jansson und ihre erste große Liebe Vivica Bandler sich gegenseitig gaben.
Mehr über alle Charaktere können Sie übrigens hier nachlesen.
Wussten Sie, dass der Name der Moomins von Tove Janssons Onkel mütterlicherseits, Einar Hammarsten, stammt? Hier können Sie mehr über die Genese der Moomins lesen.



Gesellschaftliche Reflexionen
In ihren Geschichten reflektiert Tove Jansson die Gesellschaft und lotet aus, was normal ist. Vor allem Themen um Geschlechter-Zuschreibungen, Feminismus und Queerness finden sich wieder.
Rollenbilder
Die Moomins scheinen Geschlechter-Stereotypen zu entsprechen: Moomin Mama trägt eine Handtasche, Moomin Papa fühlt sich zuständig als Versorger der Familie. Gleichzeitig werden diese Klischees aber permanent unterlaufen und infrage gestellt. So bricht Tove Jansson die Rollenbilder auf und zeigt, dass Individualität wichtiger ist, als Rollen:
Moomin Mama ist tatkräftig und mutig, Moomin Papa hingegen eitel. Snorkfräulein rettet Moomin heldinnenhaft vor einer Krake, Klein My und Snufkin haben so individuelle, vielschichtige und starke Charaktere, dass man sie nicht als typisch männlich oder typisch weiblich zuordnen kann.
Und einige weibliche Charaktere leben alleine, ohne einen Mann: Filifjonka und Mymla (Senior) kommen auch gut ohne einen festen Partner in ihrem Leben aus.
Gender, Queerness und Identität
Während Tove Jansson die Moomin-Geschichten schrieb, war Queerness gesellschaftlich noch nicht so anerkannt, wie es heute ist. Die Themen betrafen sie allerdings und so finden sie sich, wenn auch diskret, in den Geschichten. Hier einige Beispiele, wie Tove Jansson es schaffte, Queerness zu thematisieren, ohne, dass das Thema im Vordergrund steht:
- Hemule sind zunächst nicht eindeutig als weiblich oder männlich lesbar. Es gibt beides, doch unterscheiden sie sich nicht in ihrem Aussehen oder der Kleidung, die aus langen Gewändern besteht.
- Charakter-Eigenschaften, die als typisch männlich oder typisch weiblich gelten, werden spielerisch dem anderen Geschlecht zugeordnet. Moomin Papa ist eitel, Klein My angstfrei, Snorkfräulein praktisch, der Urahn zurückhaltend.
- Manche Charaktere haben kein eindeutiges Geschlecht, wie etwa Sniff (auch das Schnüferl genannt) oder die Hatifnatten.
- Too-Tickys wirkt im äußeren Erscheinungsbild und Charakter androgyn. Dass sie weiblich ist, verraten nur ihre Pronomen.



Psychologische Aspekte
Ihren psychologische Sensibilität trägt zur Tiefe der Geschichten Tove Janssons bei. Charaktere erhalten ausdifferenzierte Persönlichkeiten, schwierige Themen werden rücksichtsvoll behandelt und die Welt ist keineswegs immer einfach und bunt.
Soziale Sichtbarkeit
In der Geschichte von Ninny erzählt Tove Jansson von sozialer Unsichtbarkeit. Ninny wurde zu lange schlecht behandelt und psychologisch misshandelt, sodass sie unsichtbar wurde. Die Moomins schaffen es langsam, wieder Leben in das Mädchen zu hauchen, indem sie sie annehmen, wie sie ist, akzeptieren und in ihre Familie integrieren. So kann Ninny sich selbst erfahren und zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen und so heilen.
Einsamkeit
Versteht man die Morra als die Personifizierung der Einsamkeit, wird deutlich, wie Tove Jansson schwierige Themen für Kinder zugänglich beschreibt. Die Morra ist alleine, einsam, kalt, sie sucht die Nähe und Wärme der Gemeinschaft, doch diese weicht ihr immer aus. Die Morra ist wie eine Depression, sie ist da und sie verkörpert die Angst vor der Angst.
Doch sobald Moomin die Morra versteht und genauer betrachtet, verliert sie ihren Schrecken. So trifft er sie in Mumins wundersame Inselabenteuer sogar ohne das von ihr begehrte Licht der Sturmlampe, und sie tanzt und singt für ihn. Moomin entwickelt Verständnis für die Morra und kann sie ohne Furcht annehmen.
Verlust
In Herbst im Mumintal schreibt sich Tove Jansson den Verlust zweier lieber Menschen von der Seele. Wie die Abwesenheit ihrer Mutter und ihrer Schwägerin nagt auch das Fehlen der Moominfamilie im Buch. Die Moomins sind nicht zu Hause, sie kommen auch nicht wieder. Dieses ist auch das letzte Buch über die Moomins, das Tove Jansson schreibt.
Persönlichkeits-Anteile
Einzelne Charaktere aus dem Moomintal leben ganz wunderbar verschiedene Persönlichkeits-Anteile aus. So kann Klein My etwa als inneres Kind gelesen werden. Tove Jansson sah in unterschiedlichen Charakteren auch eigen Persönlichkeits-Anteile.



Werte und Einstellungen
Auch wenn in den Moomin-Geschichten keine politischen Anspielungen oder Statements auftauchen, so werden Tove Janssons Werte deutlich. Unter anderem:
Pazifismus
Im Moomintal leben alle in Frieden. Der Ausgangspunkt ist Frieden und Frieden ist auch das Ziel, das am Ende jeder Geschichte erreicht wird. Dazwischen treten Konflikte und Gefahren auf, die sich immer gegen eben diesen Frieden richten. Doch der klare ideale Zustand im Tal ist das gemeinsame Auskommen, zu dem alle gerne beitragen.
Offenheit und Gemeinschaft
Die Gesellschaft im Moomintal ist offen und Neuankömmlinge werden zuerst gastfreundlich willkommen geheißen und dann integriert. Tove Jansson war auch überzeugt, dass (Sprach-)Barrieren zum Überwinden existieren und Kommunikation ein Schlüssel ist. Tofsla und Vifsla etwa sprechen eine eigenartige Geheimsprache, die Moomin und Snufkin zunächst kaum verstehen, aber ein kluger Hemul hat damit keine Probleme und die beiden lernen es auch sehr schnell. Und dank der gelingenden Kommunikation lösen sie dann das Rätsel um den Hut des Zauberers.
Toleranz
Im Moomintal gibt es keine sozialen Unterschiede und die Lebensweise aller wird respektiert. Auch wenn es zwischendurch zu Irritationen kommt, meist der Moomin-Familie gegenüber, bleibt die sich am Ende doch selbst treu.
Alle Individuen haben das Recht, gehört und gesehen zu werden und verdienen Gastfreundschaft.
Wie Tove Jansson Toleranz und Respekt darüber hinaus in die Geschichten einschrieb, können Sie hier lesen.



Zeitgeschehen Mitte des 20. Jahrhunderts
Ganz deutlich finden sich Tove Janssons Erfahrungen zum Zeitgeschehen in den Büchern und Comics.
Krieg(e) und Verlust
Einzelne Elemente ihrer Kriegs-Erfahrungen immer wieder hervor, auch wenn Tove Jansson nicht direkt über den Krieg sprach.
In Mumins lange Reise suchen Moomin Mama und Moomin den Moomin Papa. Wie auch Moomin und Moomin Mama waren Tove Jansson und ihre Mutter vom Vater der Familie getrennt. Mutter und Tochter waren 1917 vor den Unruhen des Finnischen Bürgerkriegs im Zuge der Unabhängigkeit Finnlands nach Schweden zur Familie der Mutter geflohen und die Familie kam erst später wieder zusammen.
In dieser Geschichte tauchen auch Flucht, Lebensmittel-Knappheit und gegenseitige Solidarität auf.
In Komet im Mumintal bedroht ein Komet das Tal, was nicht nur in der Bild-Sprache, sondern auch im Text als Metapher für die Atombombe gelesen werden kann. Im selben Buch werden Flucht und Migration und der Verlust von Gütern behandelt.
Anspielungen auf die finnländischen Kriegskinder finden sich im Comic Mumins Familienleben: Wie rund 72.000 Kinder, die im 2. Weltkrieg ins sichere Schweden geschickt wurden und später ihre Eltern wieder finden wollten, sucht Moomin zu Beginn der Geschichte seine Mutter und seinen Vater.
Feminismus
Es ist kein Geheimnis, dass Tove Jansson für die Selbstbestimmtheit von Frauen eintrat und dies auch ihre Charaktere leben ließ. Sie war davon überzeugt, dass Frauen praktisch und fähig sind und keine männliche Begleitung an ihrer Seite brauchen, um gesellschaftlich legitimiert zu sein. Entsprechend lässt sich jede einzelne weibliche Figur im Moomintal betrachten.
Den Namen Mymla etwa entlehnte Tove Jansson dem Wort, das sie in ihren Tagebüchern für miteinander schlafen (att mymla) benutzt. Eine Mymla kann also als Person verstanden werden, die ihre Sexualität frei auslebt.
Medien
Die Bedeutung der Medien nahm in den 1950ern bis 1970ern, also der Zeit, in der die meisten Moomin-Geschichten entstanden, zu. Entsprechend spiegeln sich relevante Themen auch in den Geschichten der Moomins:
Weltraum
Die Faszination für den Weltraum, viele Science-Fiction Erzählungen und die Mondlandung finden ihren Einzug in Form von Marsmenschen im Comic Mumin und die Marsmenschen. Auch hier spielen wieder Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft eine große Rolle.
Wilder Westen
Während hierzulande Winnetou ein Held war, wurde auch in Finnland Richtung USA und Geschichte der native american geschaut. Der Wilde Westen findet Einzug im Comic Mumin im Wilden Westen.
Reiselust und Mobilität
Dass es in dieser Zeit auch zu mehr Mobilität kam, spiegelt sich in den Besuchen der Moomins an der Riviera im Comic Mumin an der Riviera. Reisen ins Ausland waren nun finanziell möglich, die Neugierde auf das nahe (und zunehmend auch ferne) Ausland stieg und freie Tage und Urlaub existierten in dieser Form für viele, da immer mehr Menschen in Angestellten-Verhältnissen arbeiteten.
Weitere Parallelen
Ob es noch mehr Parallelen zu Tove Janssons Themen gibt? Oh ja, viele!
Da sind persönliche Erlebnisse, die sie ihre Charaktere erleben lässt (z.b. eingeschneit sein oder Besuche auf einer Insel), viele philosophische Diskussionen, die sie mit ihren Brüdern und Freundinnen und Freunden führte, ihre Liebe zur Natur, die auch die Moomin Familie teilt, Details aus ihrem Alltag (die Moomins essen in Mumins lange Reise Fazer-Schokolade, eine typisch finnische Schokoladen-Marke) und vieles mehr.
Tove Jansson schreib niemals nur für Kinder, schrieb nicht, um zu erziehen. Sie schreib für sich selbst, um verarbeiten zu können, um Themen Ausdruck zu verleihen und um ihre Kreativität fließen zu lassen. Das macht die Bücher auch für Erwachsene so zugänglich und wer die Geschichten liest, egal in welchem Alter, wird ein Stückchen weiser sein am Ende der Lektüre.
Quellen:
Gravett, Paul: Tove Jansson. Bibliothek der Illustratoren. Zürich 2022.
Hindle, Debbie & Ingram, Gita (2022): In the shadow of war: Tove Jansson’s
Comet in Moominland, Infant Observation, 25:2, 89-103, DOI: 10.1080/13698036.2022.2162100
Hoff, Karin; Rühling, Lutz (Hg.): Kindler Kompakt: Skandinavische Literatur 20. Jahrhundert, S. 114-116, Deutschland, 2017.
(e)labor(ations) in the work of Tove Jansson and Audre Lorde, Journal of Lesbian Studies, 23:2,
224-242, DOI: 10.1080/10894160.2019.1520550
https://www.moomin.com/en/blog/going-over-to-the-ghost-side-queer-themes-in-tove-janssons-life-and-work-part-3/#1483bc1b
https://www.moomin.com/en/blog/groke/#f8dd9c46
https://www.moomin.com/en/blog/moominmamma/#1483bc1b
https://www.moomin.com/en/blog/the-secret-message-in-mymbles-name-queer-themes-in-tove-janssons-life-and-work-part-2/#1483bc1b
Tove (Film) 2020. Regie: Zaida Bergroth.