Ja ja, Sie haben recht. Das zauberhafte Märchen geschrieben hat der Däne Hans Christian Andersen ganz alleine. Doch selten hat ein Künstler oder eine Künstlerin diese Geschichte so liebevoll und dabei unverklärt in die Bildsprache übersetzt wie die Finnin Sanna Annukka. Und bebildert haben sie schon viele. Deshalb sind in diesem Fall beide gleichberechtigt.
Doch lassen Sie es uns erst einmal bequem machen. Wir sind im Lockdown und sollen alle zu Hause bleiben. Sie haben bestimmt ein paar Minuten Zeit für die Lektüre, richtig?
Sitzen Sie auf dem Sofa oder im Sessel? Gut.
Haben Sie eine Kanne Tee bei sich stehen? Noch besser.
Warme Socken an den Füßen? Heute ein absolutes Muss!
Heute ist Lese-Tag. Ihre Lieblings-Lektüre für die nächsten Minuten: All about Die Schneekönigin.
Die Story in Kurz
Für alle, die noch einmal auffrischen möchten, hier die Story in Kurz. Alle, die sie noch gut im Kopf haben, können zum nächsten Absatz springen.
Die Nachbarskinder Gerda und Kay sind beste Freunde, bis Kay je einen Splitter des Spiegels des Teufels ins Herz und in die Augen bekommt. Diese bewirken, dass er in allem nur noch das Schlechte sieht und dass sein Herz zu einem Eisklumpen gefriert und er nichts mehr spürt. In diesem Zustand entführt ihn die Schneekönigin in ihr Schloss.
Gerda zieht nach einiger Zeit los, um Kay zu suchen, verbringt viel Zeit im Sommergarten einer Zauberfee, erinnert sich dann aber an ihren Freund und zieht weiter durch verschiedene Abenteuer. Auf ihrer Reise helfen ihr Krähen, ein Prinz und eine Prinzessin, eine Räubertochter und zwei weise Frauen. Und ihre Hartnäckigkeit und Freundschaft zu Kay. So findet sie den Palast der Schneekönigin.
Dort ist Kay fast erfroren und versucht, ein Rätsel der Schneekönigin zu lösen, wozu er aber durch den Splitter des Spiegels in seinen Augen nicht fähig ist. Gerda schafft es, Kays Herz durch ihre heißen Tränen zu schmelzen und so gelingt es ihm wiederum, das Rätsel der Schneekönigin zu lösen. Dadurch ist er wieder frei und die beiden kehren nach Hause zurück, wo sie feststellen, dass sie "erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen" geworden sind. (in der Version vom Knesebeck Verlag: Andersen, Hans Christian: Die Schneekönigin, München 2015, S. 88.)
Märchen, Kälte und Modernisierung in der Schneekönigin - damals und heute
An dieser Stelle soll nun keine Analyse Der Schneekönigin erfolgen, dazu bietet sie eine zu hohe Dichte an Interpretationsmöglichkeiten und -Ebenen. Außerdem wäre das jetzt langweilig, oder? Nein, hier folgen ein paar Schlaglichter auf Motive, Hintergründe und Tragweite der Geschichte:
Die Schneekönigin ist ein Kunstmärchen. Im Gegensatz zu Volksmärchen wurde sie nicht aus der oralen Tradition einer Gesellschaft heraus niedergeschrieben (grob: wie etwa die Märchen der Brüder Grimm oder die Märchen aus Tausendundeine Nacht), sondern als Geschichte des einzelnen Autors Andersen erdacht. Zwar orientierte der sich an Volksmärchen, doch er leitete aus diesen eigene Erzählungen ab, die ausschließlich seiner eigenen Kreativität und Experimentierfreude entsprungen sind. So auch die Schneekönigin. Die Schneekönigin ist wohl sein längstes Märchen und das am vielschichtigsten. Wer das Märchen als Erwachsene und Erwachsener noch einmal liest, bemerkt Ebenen und Hintergründe, die als Kind noch nicht erkennbar waren.
Andersen verarbeitete in seinen Erzählungen unter anderem seine Alltagsrealitäten. So finden sich auch Elemente aus seinem Leben in Der Schneekönigin:
Deutlich wird im Märchen, dass er die Kälte, die er so detailliert beschreibt, wirklich kennt und nicht nur körperlich selbst erfahren hat. Die Kälte der prekären Verhältnisse, vor der er in seiner Kindheit wenig Schutz fand. Aber auch die innere Kälte von tiefer Bekümmertheit. Denn Andersen war Melancholiker, vielleicht hatte er Depressionen, und das scheut er sich auch nicht in Der Schneekönigin zum Ausdruck zu bringen. Auch wenn das Märchen (anders als viele seiner übrigen Märchen) ein happy end hat, schwingt ihm eine Schwere nach. Nur noch das Schlechte sehen können, Unglücklich sein, Erfrieren und Gefangenschaft bestimmen weite Teile des Märchens und somit dessen Tenor.
Auf einer seiner Reisen durch Europa erlebte Hans Christian Andersen die Weltausstellung in Paris 1867. Er hatte die fortschreitende Industrialisierung bereits in seiner Heimat beobachtet. Doch dort in Paris wurde ihm die Modernisierung und Kapitalisierung der Lebensverhältnisse noch gegenwärtiger und bewusster als zuvor. Er fand die Metapher des gefrorenen Herzens von Kay: Die damit einhergehenden Prozesse der Veränderung von Gesellschaft und Gemeinschaft, aber auch die Angst vor Identitätsverlust und veränderte Sichtweisen auf Fremdes fasste er in diesem Bild zusammen.
Die Schneekönigin ist inzwischen nicht nur im Norden so bekannt, dass sie wirklich fast jeder kennt. Zahlreiche Interpretationen als Theaterstücke, Vertonungen und Verfilmungen zeugen ebenfalls davon. Die große Bekanntheit des Märchens trug dazu bei, dass viele Künstlerinnen und Künstler das Märchen aufgriffen, interpretierten oder weiter dachten.
Ist Ihnen aufgefallen, dass das Räubermädchen Ronja Räubertochter von Astrid Lindgren deutliche Parallelen zum Räubermädchen aus der Schneekönigin aufweist? Beide leben in einer geteilten Burg und sind humaner und emphatischer als ihre Eltern.
Auch Disneys Animationsfilme Die Eiskönigin - Völlig unverfroren von 2013 und Die Eiskönigin 2 aus dem Jahr 2019 bedienen sich entfernt des Themas. Jugendbuchautor Kai Meyer entwickelt auf Basis Der Schneekönigin 2005 seine Geschichte im Roman Frostfeuer. Diese Liste ließe sich wohl noch lange weiter führen und lässt die Inspiration, die Die Schneekönigin bis heute stiftet, erkennen. Das zeugt vom bleibenden Bedürfnis und der Sehnsucht, den Winter und die Kälte durch eine Verkörperung greifbarer zu machen. Vielleicht, weil wir das, was schwindet, am liebsten bewahren möchten? #Klimawandel
Hans Christian Andersen
Der große Märchen-Erfinder Hans Christian Andersen, der so viel mehr war, als ein Kinderbuchautor, wurde am 02. April 1805 im dänischen Odense auf Fünen in ärmlichen Verhältnissen geboren. Heute ist das Datum seines Geburtstags übrigens zu seinen Ehren der internationale Tag des Kinderbuches. Seine Kindheit war geprägt von Bescheidenheit und Verzicht, der psychischen Instabilität und dem Alkoholismus seiner Mutter und dem politischen Engagement und dem Status als Sonderling seines Vaters. Aber auch von der kulturellen Bildung seines Vaters, die ihm den Zugang zu Wissen ermöglichte, das Andersen in diesen Verhältnissen sonst nicht erfahren hätte.
Mittellos kam Andersen nach Kopenhagen, fand Gönner und Gönnerinnen und war - das wissen die Wenigsten - auch ein sehr begabter Künstler. Er schuf neben der Märchen auch unzählige und sehr ausgefeilte Scherenschnitte und kleinteilige Collagen und war wohl einer der begabtesten Künstler seiner Zeit auf diesen Gebieten.
Andersen reiste viel und gerne durch Europa, fand Inspiration auf seinen Fahrten und suchte gewissermaßen immer im Fremden nach der eigenen Mitte. Amüsant scheint aus heutiger Sicht, dass er, der ein sehr ängstlicher Mensch war, sich gleichzeitig doch auf seinen Reisen in unbekanntes Terrain wagte - er kam bis nach Nordafrika.
Besonders an seinen Märchen ist, dass sie oft den Alltag und die Probleme einer breiten Masse der Bevölkerung spiegeln und dieser eine Stimme geben. Sie handeln kaum von Prinzessinnen und Prinzen. Er verarbeitete in seinen Märchen Kriegserfahrungen seines Vaters (etwa in Der standhafte Zinnsoldat), Armut und Reichtum (beispielsweise in Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern), die Suche nach Glück und innerer Ruhe (so in Die Prinzessin auf der Erbse), oder das anders-Sein und sich-anders-Fühlen (wie in Der Kleinen Meerjungfrau oder Dem hässlichen Entlein). Denn dass Hans Christian Andersen sich als Außenseiter fühlte, wird nicht nur in vielen seiner Briefe und Reisetagebücher deutlich. Wenn Sie in Dänemark eine heiße Diskussion entfachen wollen, werfen Sie die These in den Raum, dass der ewige Junggeselle Andersen homosexuell gewesen sei. Darüber sind sich die Forscherinnen und Forscher nicht einig, doch wohl jede Dänin und jeder Däne wird dazu eine Meinung haben.
Hans Christian Andersen starb am 4. August 1875 bei Kopenhagen, doch seine Märchen sind bis heute unvergessen. Weil sie vielschichtig die Gesellschaft betrachten und widerspiegeln. Und weil sie in Armut und Traurigkeit immer schaffen, Schönheit und Glück finden.
Sanna Annukka
Eine der jüngeren Künstlerinnen, die für Marimekko designt haben, ist Sanna Annukka. Sie ist 1983 geboren, ihre Mutter ist Finnin und ihr Vater Brite. Sie verbrachte viel Zeit in beiden Ländern und machte 2005 ihren Abschluss an der University of Brighton.
Annukka versucht vor allem, starke visuelle Ideen zu verbildlichen, in denen sie oft die Natur und immer das Wesen der Dinge repräsentieren möchte. Charakteristisch für ihr Design sind und waren zwei Tierarten, Vögel und Pferde. Eine von Sannas stärksten Inspirationsquellen ist die Kalevala, das finnische Nationalepos. Außerdem lässt sie sich in ihrer Kunst stark vom skandinavischen Design der 1950er und 60er beeinflussen. Sieht man, oder?
Am liebsten arbeitet Annukka mit der Druckgrafik, genauer: dem Siebdruckverfahren. Sie sagt auf ihrer Website:
„I love the organic process of printmaking, I could be making a print and decide that it needed a new layer of colour, or some detail adding. The work takes unexpected twists and turns - you don’t quite know how it will end up.“
2006 entwarf Annukka das Cover des Albums Under the Iron Sea für die britische Indie-Rock-Band Keane. Jeder Song erhielt ein eigenes Artwork, was das Album unter Sammlern beliebt machte. Kennt Sie jemand vielleicht schon seit diesen Tagen?
2015 erschienen dann die drei von ihr illustrierten Märchenbücher Der Nussknacker von E. T. A. Hoffmann, Der Tannenbaum und natürlich Die Schneekönigin, letztere beide von Hans Christian Andersen im Knesebeck Verlag. Jedes der Bücher ist hauptsächlich in einem Farbspektrum illustriert. Die Schneekönigin ist vor allem in türkis-, blau- und braun-Tönen gehalten. Wie auch bei den Illustrationen zu Keanes Musik wird in der Schneekönigin deutlich, dass Annukka sich besonders mit den Inhalten der Texte auseinander setzt, die sie illustriert. Die über 25 Illustrationen verbildlichen geheimnisvoll und in wunderschöner Formsprache das geschriebene Wort. Diese Schneekönigin richtet sich vor allem an Erwachsene.
Sanna arbeitet als freischaffende Künstlerin, wer ihr Design so sehr liebt wie wir, kann sich wie wir auf ihrem Instagram-Account weiter inspirieren lassen.
Quellen:
Andersen, Hans Christian: Die Schneekönigin, München 2015
Härkäpää, Maria et al. (Hg.): In Patterns Marimekko, San Francisco 2012, S. 239
von Pawlik, Katja: Das Motiv des kalten Herzens in Hans Christian Andersens 'Die Schneekönigin' und Wilhelm Hauffs 'Das kalte Herz’, München 2016
https://www.arte.tv/de/videos/098378-000-A/maerchen-fuer-die-welt-hans-christian-andersen/
https://www.keanemusic.com/interview-with-sanna-annukka/
https://www.sanna-annukka.com/about
https://uol.de/bis/literatur-suchen/digitalisierte-historische-kinderbuecher